Eine junge Spanierin tanzt durch die Berliner Nacht, sie sucht Anschluss und lernt vier junge Berliner Männer kennen. In der Folge entspinnt sich eine dramatische Liebes- und Gangstergeschichte, es kommt zum Bankraub. Obwohl der Film viele Debatten ausgelöst hat, bleibt ein Aspekt da- bei weitgehend unberücksichtigt. In dem Film geht es nämlich auch um Europa.
Vier Euro. So viel verdient Victoria (gespielt von Laia Costa) in einem schicken Berliner Bio-Café pro Stunde. Und der Mindestlohn? »I should kill my boss«, sagt sie zu Sonne (Frederick Lau), einem »echten Berliner«. Ihn und seine drei Freunde Boxer (Franz Rogoswski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Maximilian Mauff) hat sie kurz zuvor vor einem Berliner Nachtclub kennengelernt. Sie ziehen durch die Straßen, albern herum. Schnell wird es romantisch zwischen Victoria und Sonne – und plötzlich sitzen sie in einem gestohlenen Auto, fahren in eine Tiefgarage voller Berliner Unterweltgestalten und werden in einen Bankraub verwickelt, bei dem einiges schiefgeht.
Viel ist über Victoria geschrieben wor- den, gerade seit dem Gewinn mehrerer Deutscher Filmpreise (sechs Lolas. u.a. für Regie, Kameraführung und darstellerische Leistung). Der Film von Regisseur Sebastian Schipper folgt einem klaren formalen Prinzip: Es gibt keine Schnitte. Das Drehbuch hat nur zwölf Seiten. Dieser Formalismus macht erst einmal skeptisch, weil man meint, ihm müsse sich alles andere unterordnen.
Ein atemloses Experiment
Das Experiment glückt aber: Dass der Film in nur einer Einstellung gedreht wurde, führt zu einem Gefühl starker Unmittelbarkeit – fast, als wäre der Zuschauer Teil des Ganzen. Alles wirkt schnell, ja verdichtet: Man fiebert mit, ob der Bankraub glückt, man schwitzt, wenn Victoria und die anderen vor der Polizei wegrennen, man spürt die Abkühlung des geöffnetenTaxifensters. Durch diese Machart zieht derFilm die Zuschauer in seinen Bann und lässt sie erst nach 140 Minuten (vielleicht etwas desorientiert) wieder los.
Dass der Film authentisch wirkt, ist auch der Leistung des norwegischen Kameramanns Sturla Brandth Grøvlen geschuldet, für die er mit einem Filmpreis (Beste Kamera) ausgezeichnet wurde. Er folgt den Darsteller/innen nicht nur, er begleitet sie still und kommentiert zugleich – mal mit sicherer Hand, mal mit verwackelten Kameraeinstellungen. Vielleicht ist es das nicht Perfekte, sind es die Fehler und die Improvisation in den Dialogen und im Schauspiel, die den Film so erfolgreich machen – Anti-Hollywood-Kino. So kann auch die unglaubliche Story realistisch werden, weil sie sich im Rahmen der Inszenierung eben so authentisch anfühlt. Birdman, der Film, der das zuletzt versuchte, wirkt durch seine scheinbar nicht vorhandenen Schnitte und die theatralischen Dialoge künstlich. Und auch Außer Atem von Jean-Luc Godard, zu dem oft Vergleiche gezogen werden, hat durch die beinahe perfekte Inszenierung jedes Bildes, jedes Wortes, jedes Gesichtsausdrucks etwas Arrangiertes, das Victoria nicht anhaftet.
Neben einer atemlosen Reise durch eine Berliner Nacht, einer tragischen Liebesgeschichte und einem gelungenen filmischen Experiment ist Victoria aber noch mehr: Ein Film über Europa in Zeiten der Finanz- und Staatsschuldenkrise. Zunächst scheint alles klar: Eine junge Spanierin ist wie viele andere Südeuropäer/innen nach Berlin gekommen, sie jobbt für vier Euro pro Stunde in einem Café in der edlen Mitte der Stadt und sucht nachts im Club nach Anschluss. Sie kennt niemanden und fühlt sich fremd, auch wenn sie schon drei Monate dort lebt. Es wirkt wie Antiausteritätskitsch: Eine arme Südeuropäerin kommt aufgrund der Politik der Europäischen Union, aber auch Deutschlands, in den reichen Norden, weil sie in ihrer Heimat aufgrund der enorm hohen Jugendarbeitslosigkeit keine Perspektive mehr sieht. In Deutschland arbeitet sie als Geringverdienerin, auch die Sprache spricht sie nur rudimentär. Sie begehrt nicht auf, sondern beugt sich den Verhältnissen und wählt die bessere von zwei schlechten Optionen: Ausbeutung in Berlin anstatt Perspektivlosigkeit in Madrid.
Victoria trifft auf echte Berliner Jungs
Dann trifft sie auf die vier »echten Berliner Jungs« und schnell wird klar: Auch sie sind alles andere als reich. Sonne, Boxer, Fuß und Blinker halten sich mit kleineren Diebstählen über Wasser, Boxer saß bereits im Gefängnis (»I am not a bad person, I just did a bad thing.«). Abgebrannt trinken die vier Männer auf einem Kreuzberger Hochhausdach mit Victoria Bier, das sie zuvor im »Späti« geklaut haben, aber im Gegensatz zum Klischee der Kiezjugendlichen wissen sie sich zu benehmen: Sie achten auf Victoria und verhalten sich leise im Treppenhaus (der Nachbarn wegen). Im Zwischenmenschlichen ist durchaus ein Wertegerüst vorhanden.
Victoria dagegen hatte eine Karriere als Konzertpianistin vor sich – eine Ausbildung, die man eher in der Mittel- oder Oberschicht verortet. Sie übte jahrelang, nahm die maximale Anzahl an Stunden am Konservatorium bevor man ihr nahelegte, diese Karriere zu beenden. Sie war nicht gut genug. Daraufhin kam sie nach Berlin. Ein junges, kultiviertes Mädchen trifft also in Berlin auf vier junge Männer aus einer Zwischenwelt – und sie verstehen sich, beinahe intuitiv. Alle fünf befinden sich auf der Verliererseite des Lebens, sie haben kein Geld, fühlen sich fremd und suchen ihren Teil des Glücks – das verbindet.
Victoria ist Europa
Zu einem gemeinsamen Verständnis trägt auch bei, dass ein Großteil des Films Englisch gesprochen wird (»Ey sach ma, was heißtn Spätkauf auf Englisch?«). Englisch ist zur »Lingua franca« von Europäern unterschiedlichster Schichten geworden – der selbstverständliche Umgang mit der englischen Sprache in Victoria zeichnet ein sehr realistisches Bild der Gegenwart. Dabei ist die Verständigung keineswegs einfach, Victorias Englisch ist nicht besonders gut, die Jungs helfen sich gegenseitig, es wird mit Händen und Füßen verdeutlicht und ausgeführt. Und doch, es scheint selbstverständlich zu sein, dass die Kommunikation immer weiter auf diese Weise geführt wird. Fremdheit aufgrund unterschiedlicher Nationalitäten spielt da- bei keine Rolle. Nie wird gefordert, dass Deutsch gesprochen werden müsste. Das Vertrauen, das daraus entsteht, ist für Mo- mente beinahe blind: Victoria folgt den Jungs zum Gangsterboss (André M. Hen- nicke), erduldet dessen Schikanen (»Die Bitch bleibt hier!«) und besteht darauf,Fahrerin beim Bankraub zu sein. Vielleicht wird hierbei noch ein weiteres verbinden- des Element deutlich: Victoria und die Jungs träumen von einem besseren Leben mit mehr Geld.
Die Umkehrung wirtschaftlicher Verhältnisse der Akteure und die konsequente Verständigung auf Englisch porträtieren ein Europa, das ganz natürlich zusammengehört, in dem man interessiert miteinander kommuniziert und sich – wie am Beispiel von Victoria – ohne viele Fragen und Misstrauen gemeinsam in ein Abenteuer begibt. Ein Europa jenseits der Klischees. Dabei trifft der Film trotz seines rasanten Plots auch die Zwischentöne, es bleibt Zeit für Details, für das Aufbauen von Beziehungen zwischen den Charakteren. Sebastian Schipper hat mit Victoria – neben einem gelungenen filmischen Experiment – auch einen sehr europäischen Film geschaffen: Er zeigt eine europäische Gemeinschaft, die im Alltäglichen selbstverständlich ist. Es ist ein Film über Solidarität, der zur richtigen Zeit kommt: Debatten über ein Auseinanderbrechen der Eurozone und der EU (Merkels Diktum: »Scheitert der Euro, scheitert Europa«) tritt er mit einem selbstverständlichen, alltäglichen Europa entgegen.
Der Text erschien zuerst in Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Ausgabe 9|2015.