Paco (IV-V)

Paco wandert durch die Straßen, gerät in einen Laden und wird in ein Gespräch verwickelt. Was führt er im Schilde? Je weiter die Nacht fortschreitet, desto mehr gerät die Situation außer Kontrolle. (Teil 2)

IV

Es war ein Kinderspiel, ins Haus zu kommen. Einfach warten, bis jemand rauskommt und hineinschlüpfen. Das Treppenhaus war kalt, mit gemustertem, aber zerschlissenem Steinfußboden. Er schaute sich um: Zwei Türen im Erdgeschoss, eine Treppe, eine Tür zum Hof hinaus. Links stand „Projektraum“ an der Klingel, das musste die Tür sein, die er suchte. Eine große Holztür war es, und sie war ein Problem: Neben dem Sicherheitsschloss unter der Klinke hatte sie ein zweites Schloss in der Mitte. Dahinter musste sich ein großer Stahlbügel verbergen, der die Tür zusätzlich schützte. Dieses Schloss würde er nicht mit dem mitgebrachten Werkzeug aufbekommen, dafür bräuchte er größere Kaliber. Diese Tür war ein Problem. Aber sie war nicht sein Problem, nicht heute. 

Er ging weiter, zum Hinterausgang hinaus. Als er draußen war, erlosch das Licht im Treppenhaus. Es war dunkel. Fast alle Fenster waren dunkel, nur hinter einem flimmerte aufgeregt eine Fernsehattrappe. Schreckte sowas wirklich Einbrecher ab? Paco musste lachen, denn diese Attrappen waren dermaßen auffällig, niemand konnte sie ernst nehmen.

Aber zurück zur Aufgabe, er war nicht hier, um Menschen auszulachen. Zurück zu den Fenstern, die ihn interessierten. Er hatte zu wenig auf die Fenster geachtet, als er drin gewesen war. Dieser Mann hatte ihn wirklich eingenommen mit seinem Gespräch! Er war unaufmerksam geworden dadurch. Das durfte ihm nicht noch einmal passieren. 

Er orientierte sich: Links war der Laden, er müsste sich über das gesamte Erdgeschoss erstrecken. Es waren also einige Fenster, die er zur Auswahl hatte. Das winzige Fenster, vermutlich an einem Bad, fiel weg. Auch, wenn er trainiert hatte: Da passte Paco nicht durch. Blieben also drei Fenster. An allen waren die Rollos heruntergelassen. Das macht es schwieriger, vielleicht sogar unmöglich. An einem aber schien es zu klemmen, jedenfalls war es nur zu zwei Dritteln heruntergelassen, danach ging es nur an einer Seite weiter. Es hing schräg, wie an einem verlassenen, lange nicht genutzten Gebäude. Wie nachlässig, dachte Paco, und: Das ist meine Chance. 

Er ging zum Fenster. Es lag hinter halbhohen, ungepflegten Büschen, durch die er sich hindurchzwängte. Er stand vor dem Fenster und überlegte. Das Rollo ließ nur ein kleines Dreieck frei. Er bückte sich, holte sein Handy raus und leuchtete hinein: Ja, so könnte es klappen. Zum Glück hatte er sein Klappmesser eingepackt und nicht nur die Dietriche. Er hatte überlegt, es nicht mitzunehmen, denn eigentlich brauchte er es in seinem neuen Leben nicht. Und das hier, das war der Beginn seines neuen Lebens. Aber sicher ist sicher, man musste sich ja verteidigen können. Und hierfür konnte es auch gut sein. 

Es war ein besonderes Klappmesser, mit sehr dünner Klinge, die er regelmäßig nachschärfte. Dünn und hart war sie, man konnte das ganze Messer gut verstecken. Für dieses alte Fenster musste es funktionieren, er musste nur den richtigen Punkt finden. Er nahm es in die Hand und ließ es aufschnappen. Das kurze Geräusch ließ Adrenalin in seinen Blutkreislauf gelangen: Es war die Ankündigung eines Kampfes, der ihm heute nicht bevorstand.

Er steckte die Klinge behutsam an die Stelle, an der er am besten zwischen die Fensterflügel kam. Er musste es nur ein Stück weiter öffnen, um mit Draht dazwischenzukommen und das Rollo weiter zu öffnen. Das Fenster ließ sich erstaunlich leicht öffnen, es war schief und krumm und schloss an keiner Stelle richtig. Es war leicht, mit dem Messer dazwischen zu kommen, den Verschluss mit etwas Ruckeln zu öffnen und dazwischenzulangen. Paco zog das Rollo ein Stück weiter auf und konnte den zweiten Fensterflügel aufdrücken. Den hatten sie nicht einmal verschlossen. Das war fast zu einfach, lachte er in sich hinein. 

Er stieg in einen der hinteren Räume ein, die er vorhin nicht gesehen hatte. Jetzt kam die Stunde der Wahrheit: Entweder es hatte sich gelohnt, oder nicht. Paco machte kein Licht. Er holte sein Handy raus und mache den Blitz an, um etwas zu sehen. Und da stand es: ein aufgebautes Tonstudio. Er hatte so etwas schon gesehen, damals, als Haftbefehl ihn in sein Studio eingeladen hatte. Eigentlich hatte er Ali eingeladen, der rappte besser als er, aber er durfte dabei sein. Das hier war etwas kleiner, aber es gab jede Menge Technik. Paco freute sich: Es hatte sich doch gelohnt, hier einzubrechen!

Er überlegte: Was davon würde er mitnehmen können? Natürlich hatte er keinen Rucksack dabei, nur einen Turnbeutel und seine große Jacke, in der er etwas verstauen konnte. Das große Mischpult konnte er unter den Arm nehmen, nachts und in dieser Gegend fiel das niemandem auf. Hier waren sowieso alle DJ oder Tätowierer und hatten keine ordentlichen Jobs. Karriere – als ob! Ein Mischpult unterm Arm würde niemandem verdächtig vorkommen. Trotzdem: Wirklich schade, dass er keinen Rucksack dabeihatte. 

Paco packte den Plattenspieler und Technik, die teuer aussah, in seinen Turnbeutel. Nur nicht die Kabel vergessen, ohne Kabel wären sie weniger wert. Leider hatte niemand einen Laptop hiergelassen, der wäre natürlich einfach loszubekommen. Aber dieses Soundequipment hier würde er auch verticken können. Und er wusste auch schon, an wen: Dieser Günther kannte sich mit Technik aus. Er würde ihm einen guten Preis machen. Nachdem Paco alles eingepackt hatte, stieg er wieder durchs Fenster hinaus und ließ es offen: Sollten sie morgen frieren, die Dummköpfe. Selbst schuld, wenn sie es ihm so einfach machten. 

Paco fuhr ein paar Stationen und lieferte die Sachen bei Günther ab. Natürlich war er wach! Und er machte ihm einen guten Preis. Er würde nicht reden, niemand würde von ihm erfahren, dass Paco bei ihm gewesen war. Günther mochte seine Cousins nicht, auch, wenn er Geschäfte mit ihnen machte. Ihn aber mochte er, deshalb konnte Paco sich sicher sein, dass er nicht plaudern würde. 

Er hatte sein erstes eigenes Geld selbst verdient, und soviel! Er hatte jetzt Lust zu feiern. 

V

Wieder stieg er an der Station aus, an der er vorhin seinen Raubzug gestartet hatte. An Bahnhöfen kann man nachts die verschiedenen Formen von kaputt beobachten, die Menschen annehmen können, dachte er. Hier versammelten sich Schlaflose, Obdachlose und Besinnungslose, wärmten sich oder schliefen, tranken, spritzten sich etwas und zitterten. 

„Ich hab‘ Dich gesehen, kleiner Wichser, ich hab Dich gesehen!,“ schrie ein Mann. Er stand nah am Gleis, fast ganz am Ende und gestikulierte wild. Paco beachtete ihn erst gar nicht: Einer von diesen Junkies, die ihm zuhause den Stoff fast aus den Händen rissen, aber nie zahlen wollten. Ein Süchtiger – er hatte für diese Leute nur Verachtung übrig. Bald würde er sie los sein. 

„Ich hab‘ Dich gesehen!,“ schrie er weiter und zeigte auf Paco. „Dich, Dich, Dich, du kleiner Wichser!“ Sein Arm wedelte wild, aber es war klar, dass er auf Paco zeigte. Es war auch sonst kaum jemand da. Seine Augen waren nicht ganz glasig, nicht ganz klar. Doch er schien Paco zu erkennen und wirklich auf ihn zu zeigen. Paco schaute ihn kurz an, dann ging er weiter auf ihn zu, denn er wollte an ihm vorbei zum Ausgang. 

Die Station war leer um diese Zeit. Die meisten Menschen schliefen ihren unruhigen Schlaf, nur wenige waren hier. Ein paar Menschen tranken Bier auf einer der Bänke, Obdachlose schliefen in Ecken, bis sie der Sicherheitsdienst wieder vertrieb. Die Bahnen kamen nicht mehr sehr häufig. Auch die Luft roch jetzt noch stärker nach Teer und weniger nach Mensch, als hätte der Grundgeruch von U-Bahnhöfen nachts mehr Zeit, um sich auszubreiten. 

Er kam bestimmten Schrittes näher an den Mann heran, der geschrien hatte. Der war nun ruhig, schaute Paco lauernd an, konnte nicht stillstehen dabei und hampelte ungelenk von einem Bein auf’s andere. Aus der Nähe betrachtet sah er weniger verlottert aus als Paco angenommen hatte. Der Bart war nicht fransig, die Kleidung zwar dreckig, aber nicht verschlissen. Der Mann begann jetzt laut zu flüstern: „Ich habe Dich gesehen!“ Dabei fixierte er Paco, konnte ihm aber nicht direkt in die Augen schauen. Schräg von unten kam der Blick, beinahe schüchtern, dabei aber angriffslustig. 

Paco kam ihm immer näher. Der Mann wackelte nun stärker von einem auf’s andere Bein. Paco marschierte unschlüssig weiter auf ihn zu. Sollte er seinetwegen etwas unternehmen? Hatte er ihn wirklich gesehen, wenn ja: wobei? Oder war es nur ein normal Irrer, der sich ihn als Opfer auserkoren hatte? Er wusste es nichts. Nichts im Verhalten des Mannes half ihm, eine Antwort zu bekommen. 

Doch dann wurde ihm klar, was er zu tun hatte: Dieser Irre würde seinen Traum nicht zerstören. Es war egal, wobei er ihn gesehen hatte. Heute hatte sein neues Leben begonnen, er hatte eigenes Geld verdient, baute sich sein Business auf. Dieser Mann würde ihn nicht stoppen, dazu hatte er kein Recht. Wer war er schon? Ein einfacher Penner, der sein Leben versoff. Paco hatte die Richtung etwas geändert, er ging nun beinahe auf den Mann zu. Er ließ nur soviel Abweichung zu, damit der andere nicht erschrak. Aber das schien er nicht tun zu wollen. 

Eine Maus huschte durch das schwarzgeteerte Gleisbett. Eine Maus, nicht einmal handtellergroß, keine dieser riesigen Ratten, von denen es in den U-Bahnschächten zuhauf gab. Sie wimmelte um den Schotter herum. Als die Bahn lautstark einfuhr, versteckte sie sich unter den Streben, und Paco stach zu.

„Ich bin nicht klein,“ sagte Paco halblaut. Er steckte das Messer weg, lief die Treppen hoch und trat an die Erdoberfläche.