Prominente Schulabbrecher_innen werden oft als Vorbilder genannt. Jede_r kann es schaffen, das ist die Botschaft. Das ist gefährlich, weil es davon ablenkt, dass das deutsche Schulsystem als Ganzes ungerecht ist.
Bill Gates hat keinen, Joschka Fischer nicht, Ryan Gosling und Mark Wahlberg ebenso wenig wie Catherine Zeta-Jones und Camoran Diaz: Sie alle haben keinen Schulabschluss. Immer wieder gehen Portraits von Prominenten durch die Presse, die ohne Schulabschluss Karrieregemacht haben.
Diese Schulabbrecher_innen als Vorbilder herauszustellen ist jedoch gefährlich, weil es zu dem Irrglauben führt, dass es jeder schaffen könnte, wenn er oder sie sich nur genügend anstrengt. Es ist gefährlich aus zwei Gründen:
Das deutsche Bildungssystem ist ungerecht
Das deutsche Bildungssystem ist ungerecht. Herkunft und Elternhaus bestimmen maßgeblich über den Bildungsverlauf mit, und einmal getroffene Bildungsentscheidungen sind schwer revidierbar. Die PISA-Studie zeigt, dass Schulversagen weiterhin ein großes Problemin Deutschland ist. Ein großer Anteil von Schüler_innen kann mit 15 Jahren selbst einfachste Aufgaben nicht lösen. Der entscheidende Risikofaktor: die soziale Herkunft. Die betroffenen Schüler_innen laufen Gefahr, eine_r der 7,5 Millionen funktionalen Analphabetenin Deutschland zu werden.
Sie haben auch schlechtere Chancen auf eine Berufsausbildung, da sie arbeitsrelevante Basiskompetenzen wie Rechnen oder Problemlösefähigkeiten nur unzureichend erlernen. Wenn diese fehlen ist es für die Betroffenen schwerer, selbst einfache Arbeiten auszuführen. Sie sind somit öfter bedroht von Arbeitslosigkeit und fehlender sozialer Teilhabe. Ein Schulabbruch kann also leicht der Anfang sein vom Ende der Teilhabe an der Gesellschaft.
Es kann eben nicht jede_r schaffen im deutschen Bildungssystem. Zu sehr fehlen Unterstützung bei Schwierigkeiten, individuelle Förderung, Betreuungspersonen. Zu sehr fehlt auch der politische Wille, Bildung von der Herkunft und den finanziellen Möglichkeiten des Elternhauses abzukoppeln. Zu stark sind auch Beharrungskräfte und Besitzstandswahrung. Motivation hilft nicht gegen schlecht ausgestattete Schulen, gegen mangelnde Nachhilfe, gegen mangelnde Sprachkenntnisse und Fehlurteile bei der Versetzung, ja gegen die Selektion selbst. Motivation kann schnell zu umso größeren Enttäuschungen führen, wenn sie nicht belohnt wird.
Nicht das Individuum, das System muss sich anstrengen
Das gezeichnete Bild des erfolgreichen Individuums ist aber nicht nur falsch, es ist auch gefährlich. Dieser amerikanische Traum verlegt die Beweislast auf die einzelne Person: Nur genug anstrengen muss sie sich, dann kann es weit kommen. Motivation und Fleiß von einzelnen Personen werden zum einzigen Faktor auf dem Weg zum Erfolg.
Damit wird dann z.B. gerechtfertigt, dass Sitzenbleiben oder Schulabbruchnicht so schlimm sind. Einige glückliche Vorbilder dienen dann als Alibi, am System nichts ändern zu müssen. Was aus dem Blick gerät ist, dass das Bildungssystem Sitzenbleiber_innen und Schulabbrecher_innen selbst produziert. Das System muss gerechter werden muss, nicht das Individuum sich mehr anstrengen.
Meritokratie, also die Vorstellung, Chancengleichheit sei verwirklicht, ist ein wichtiges Ideal. Aber sie ist weder in Deutschland noch anderswo verwirklicht. Es lohnt sich, sich für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen. Die Vorstellung, dass man seine Ziele nur durch Motivation und Leistungsbereitschaft erreichen kann, lenkt von diesem lohnenswerten Kampf jedoch ab. Nur wenn Menschen sich zusammenschließen, sich organisieren, politischen Druck aufbauen und Debatten beeinflussen, kann das System gerechter werden. Und nur, wenn der Rahmen stimmt, lohnen sich Motivation und Leistung.
Schulabbrecher_innen und Schulversager_innen als Vorbilder sind wichtig. Sie motivieren und zeigen, dass Menschen trotz widriger Umstände ihren Weg gehen können. Gleichzeitig dürfen sie nicht davon ablenken, dass das deutsche Bildungssystem ungerecht ist und besser werden muss. Nur dann kann wirklich jede_r seine Träume verwirklichen.
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