Wie sich demokratische Begegnungsräume durch Corona verändern

Warum menschliche Interaktionen zur politischen Willensbildung wichtig sind und nicht nur im digitalen Raum stattfinden können – eine Diskussion über Veränderung demokratischer Begegnungsräume und welche Lehren wir daraus ziehen können. 

Demokratie beruht zu großen Teilen auf Begegnungen: am Arbeitsplatz, in der Bürgerversammlung, am Wahlkampfstand, im Plenum, sogar im Hinterzimmergespräch oder am Stammtisch in der Kneipe. Überall finden Meinungs- und Entscheidungsfindung statt. Und das beruht auf räumlicher Anwesenheit, oder Interaktion, wie SoziologInnen es nennen.

Das alles ist durch Corona kaum noch möglich. Anwesenheit wird reduziert, ja vermieden: Der Bundestag hat seine Geschäftsordnung so verändert, dass er mit einem Viertel seiner anwesenden Mitglieder stimmfähig ist. Veranstaltungen werden abgesagt oder ins Internet verlagert. Hinterzimmergespräche finden nicht mehr im Café Einstein statt, sondern am Telefon – wenn überhaupt. Und die Kneipen, Cafés und Restaurants sind ebenso geschlossen wie Familien- und Freundesbesuche verboten sind.

Politische Willensbildung braucht Anwesenheit

Gemeinsame Anwesenheit ist für politische Willensbildung auf unterschiedliche Weisen wichtig. Im politischen System im weiteren Sinne, also rund um das Parlament, in Verwaltungen, Verbänden, Think Tanks und NGOs, spielen Veranstaltungen eine große Rolle. Hier werden Konzepte und Ideen präsentiert, diskutiert, es werden Positionen klargemacht und geschärft sowie, werden Stimmungen getestet. Akteure lernen sich kennen, es entstehen Netzwerke, die auch für vertiefte Diskussions- und Beratungsprozesse taugen: Man ruft sich an, diskutiert die aktuelle Lage und erfragt Mögliches, weil man sich ständig auf Veranstaltungen trifft und kennt. Diese Formate werden medial begleitet: Zwar steht selten etwas davon in der Zeitung, weil sie kaum Nachrichtenwert haben, aber sie dienen als Hintergrundinformation für JournalistInnen.

Aber auch im Privaten spielen Begegnungen für die politische Meinungsbildung eine wichtige Rolle. Die Vorstellung, dass man sich lediglich durch Zeitunglesen (oder heute: Twitter scrollen) seine Meinung bildet, unterschlägt: Die eigene Meinung schärft sich häufig erst in der Auseinandersetzung mit Anderen. Die Diskussionen am Küchentisch, auf der Arbeit, in der Kneipe, dem Lese- oder Familienkreis helfen, sich seiner eigenen Haltung zu Themen klarer zu werden oder diese gar zu verändern. Auch das fällt gerade zu großen Teilen weg. Über Skype oder Facetime diskutiert es sich schlechter: Nicht nur ist die Verbindung oft wackelig, man kann zudem einfach auflegen, wenn einem die Diskussion zu weit geht.

Deutschland lernt #Neuland

Das ist die Ausgangslage. Zwei vermeintlich gegensätzliche Prozesse lassen sich in Zeiten der Kontaktbeschränkungen beobachten. Einerseits: Menschen lernen Videoconferencing und kollaboratives Arbeiten via Software. Das ist nicht trivial: Neben technischer Kompetenz setzt das auch neue Sozialkompetenzen voraus: mehr Geduld, sich melden, Mikrofone stumm schalten, sich kurzfassen. Fähigkeiten, die für Jüngere häufig Allgemeinwissen sind, werden jetzt weiteren Gruppen zugänglich.

Kommunikation wird digital neu organisiert, Digitalkompetenz sickert in die Gesellschaft ein. Selbst vormals widerständige Bereiche wie das deutsche Schulwesen stellen sich (für ihre Verhältnisse) blitzschnell auf Distanzkommunikation ein. Das ist begrüßenswert und wird auch nicht so schnell verloren gehen. Was zudem auffällt: Digitale Kommunikation ist sachorientierter als Interaktion. Das Gesellige, das häufig am Rande von formalen Veranstaltungen stattfindet, verschwindet fast vollständig.

Andererseits lässt sich scheinbar nicht alles einfach durch digitale Kommunikation ersetzen. Viele Events werden verschoben, weil Videoconferencing eben nicht unendlich skalierbar ist und weil in vielen Bereichen die persönliche Begegnung nicht ersetzt werden kann.

Der Weltklimagipfel etwa ist auf November 2021 verschoben worden – damit er face-to-face stattfinden kann. Gerade in solchen transnationalen Bereichen ohne institutionalisierte Erwartungsstrukturen – es gibt kaum eine organisatorische Basis oder fixe Regeln zur Durchsetzung des Klimaschutzregimes – ist physische Interaktion umso wichtiger.

Nicht alle Treffen sind digital ersetzbar

Vieles findet also nicht statt, einiges wird digital ersetzt. Im politischen Raum verursacht das weniger Probleme als im Privaten. Zu eingeübt sind die Mechanismen, als dass man nicht für eine Weile auf analoge Treffen verzichten könnte. Netzwerke bleiben bestehen, die Akteurspositionen sind klar verteilt, und die politischen Institutionen funktionieren weitgehend reibungslos. Treffen fehlen, aber man kann auch einige Monate ohne auskommen.

Privat ist die interaktionsarme Meinungsbildung schwieriger. Hier trifft man, mehr noch als sonst, auf Seinesgleichen: Die Algorithmen der meisten sozialen Netzwerke spielen – trotz einiger Nachbesserungen – vor allem selbstaffirmative Inhalte aus. So landet man im Autoplay von skeptischen Videos zu Grundrechtseinschränkungen sehr schnell bei Ken Jebsen und Konsorten – und schon wird der eigenen Skepsis eine Begründung gegeben und man taucht ab ins selbstreferentielle Universum der Verschwörungstheorien.

Was nach Corona bleiben könnte

Was bedeutet das für den Zusammenhang zwischen Begegnung und politischer Meinungs- und Willensbildung nach Corona? Menschen erkennen in Zeiten der Distanzkommunikation den Wert von physischen Interaktion. Einander in die Augen schauen, sich die Hand geben, das gemeinsame Mittagessen oder das schnelle Gespräch an der Kaffeemaschine: Das alles erfährt eine neue Wertschätzung. Selbst die Apologeten von Homeoffice und digitalem Nomadentum sind erstaunlich ruhig geworden, seit es nur noch digital zugeht.

Die gesteigerte Medienkompetenz könnte dazu führen, dass ein paar digitale Treffen und Veranstaltungen bleiben. Das ist gerade über lange Distanzen wichtig. Modellprojekte wie derEuropean Hub for Civic Engagement zeigen, wie das etwa speziell für zivilgesellschaftliche Organisationen funktionieren kann.

Was vielleicht auch bleibt, ist ein achtsamerer Umgang mit Interaktionssituationen, denn erst als Interaktion eingeschränkt war, hat man sie zu schätzen gelernt. Kürzere Treffen, mehr Sozialebene, mehr Geselligkeit – das könnte aus dieser neuen Wertschätzung erwachsen. Und vielleicht erwächst daraus auch das Bedürfnis, mehr und bewusstere Räume der Begegnung zu schaffen. Hierin liegt viel Potential für die Gestaltung einer lebendigen Demokratie.


Der Beitrag erschien zuerst auf dem Blog „Corona & Society“ des Progressiven Zentrums in Berlin.