Medial ist es um das Weltsozialforum (WSF), das Gipfeltreffen sozialer Bewegungen, zwar still geworden, aber es existiert noch. Trotzdem könnte das 14. Treffen, das Mitte März im brasilianischen Salvador de Bahia stattfand, durchaus das letzte gewesen sein. Denn kamen in den Nullerjahren noch über 100.000 Teilnehmende, waren es zuletzt nur noch weniger als die Hälfte.
Das WSF war 2001 so hoffnungsvoll gestartet: Es war darauf angelegt, die alten Spaltungen der Linken zu überwinden und neue Gruppen dazu einzuladen, sich über ihre sozialen Kämpfe auszutauschen. Im Gegensatz zur parteimäßig organisierten Linken sollte frei diskutiert werden können, ohne am Ende Entscheidungen treffen zu müssen. Das sollte einen freieren Austausch ermöglichen, aber auch dabei helfen, neue Bündnisse zu schmieden. Dieses Konzept des open space und der Ruf der Weltsozialforen ging auf und lockte unter dem Motto »Eine andere Welt ist möglich« jeweils viele Tausende Teilnehmende an.
In den 90er Jahren hatte sich eine globalisierungskritische Bewegung gebildet, die in den zum Teil blutig endenden Protesten gegen Tagungen der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle 1999 und der G8 in Genua 2001 ihren Höhepunkt erreichte. Der Kampf gegen den Neoliberalismus war das vereinende Element dieser Bewegung, die das Weltsozialforum in den Nullerjahren v. a. prägte. Es wurde explizit auch als Gegenmodell zum gleichzeitig stattfindenden Weltwirtschaftsforum in Davos gegründet: Dort traf sich die Wirtschaftselite, hier die globale Zivilgesellschaft in spe.
Das erste Weltsozialforum fiel auch in die Zeit des Linksrucks in Lateinamerika. Hugo Chávez hatte 1998 die Macht in Venezuela ergriffen und es schien, als sei der gesamte südamerikanische Kontinent auf dem Weg in den Sozialismus des 21. Jahrhunderts. In Brasilien war die Arbeiterpartei auf dem Vormarsch und so fand das erste Weltsozialforum in Porto Alegre statt, einem Ort, der für seinen Bürgerhaushalt bekannt war und Erfahrung mit partizipatorischen Formaten hatte. Das WSF startete in einer »Dekade der Hoffnung« (so der Soziologieprofessor Boaventura de Sousa Santos) für soziale Bewegungen.
Seitdem wurde viel experimentiert: Neben einem jährlichen Forum an einem Ort gab es ein trikontinentales an drei Orten zugleich. Um den Arabischen Frühling zu unterstützen, zog das Forum 2013 und 2015 dann nach Tunis, wo es auf eine dankbare, diskussionsfreudige Zivilgesellschaft im Entstehungsprozess stieß. Über das »First-World-Forum« (Naomi Klein) 2016 in Montreal, Kanada, wurde heftig diskutiert. Sollte man – anstatt an die Peripherie – ins Herz des Kapitalismus gehen, um die Anliegen sozialer Bewegungen sichtbarer zu machen? Hunderte abgelehnte Visa, ein Termin weit weg vom Weltwirtschaftsforum sowie geringe Teilnehmerzahlen führten dazu, dass das Forum wieder auf die Südhalbkugel wanderte.
Die Entscheidung, 2018 nach Salvador de Bahia zu gehen, fiel also nicht schwer. Aber das Forum und die Welt insgesamt sind nicht mehr dieselben wie 2001. Die »Dekade der Hoffnung« ist ebenso vorbei wie der Linksruck in Lateinamerika. Viele Länder haben autoritäre Regierungen, selbst Europa ist davor nicht gefeit. Der Wind ist rauer geworden für soziale Bewegungen. Und in Brasilien regiert seit der Absetzung von Dilma Roussef 2016 auch die Arbeiterpartei nicht mehr.
Das Forum in Bahia 2018 war, wie die meisten Weltsozialforen, stark geprägt von den lokalen Teilnehmenden. Afrobrasilianische und indigene Themen wie etwa Rassismus, Polizeigewalt oder Landraub waren in den Diskussionen unter den bis zu 60.000 Teilnehmenden aus 120 Ländern dominierend. Wie immer kam ein Großteil – Berichte sprechen von 95 % – aus dem Austragungsland. Die brasilianische Innenpolitik spielte eine große Rolle. Sogar der Ex-Präsident Lula da Silva versuchte, ein Fußballstadion zu füllen. Entgegen der Ankündigung kamen kaum andere abgesetzte lateinamerikanische Staatschefs. Die Veranstaltung wurde von vielen Teilnehmenden als Versuch der Instrumentalisierung interpretiert.
Auffällig war ebenfalls, dass aus vielen ehemals hoffnungsvollen sozialen Kämpfen reine Abwehrreaktionen geworden sind. Entsprechend wurde das Motto des Weltsozialforums angepasst: statt »Eine andere Welt ist möglich« nun also »Widerstand ist Entwicklung, Widerstand ist Veränderung«.
Die übersehenen Leistungen der Sozialforen
Tadzio Müller von der Rosa-Luxemburg-Stiftung etwa fordert, das Weltsozialforum zu beerdigen und abzuwarten, ob sich globale, themenspezifische Netzwerke bilden, die eine Koordinierungsfunktion für soziale Bewegungen übernehmen. Diese Abgesänge übersehen, dass die Weltsozialforen drei Dinge auf globaler Ebene leisten, für die es (bisher!) keine funktionalen Äquivalente gibt.
Erstens schaffen es die Treffen, überhaupt erst eine sprachliche Verständigung zwischen Menschen herzustellen, die sonst mit großer Wahrscheinlichkeit nicht miteinander sprechen würden. Dies wird zum Teil durch professionelle Übersetzer geleistet, meist aber durch die omnipräsente, selbstorganisierte Flüsterübersetzung.
Der selbstorganisierte Übersetzungsaufwand ist, zweitens, nur ein Element, das die Teilnehmenden ein Gefühl von Zusammengehörigkeit entwickeln lässt. Neben allen Differenzen schaffen es die Treffen, eine Bindung zu erzeugen. Dabei wird nicht auf eine gemeinsame Linie »eingenordet«, ganz im Gegenteil: Die Austauschformate ermöglichen es, dass die Teilnehmenden ihre eigenen Anliegen darstellen, ohne sich auf etwas einigen zu müssen. Sie können ihre eigene Identität ohne Friktionen behalten und sich trotzdem gleichzeitig als Teil der anwesenden Weltzivilgesellschaft fühlen.
Dieses Gefühl, zwischen vielen anderen engagierten Menschen zu sitzen oder zu demonstrieren, verstärkt drittens den Glauben, dass eine andere Welt möglich ist. Dieser Motivationsschub wird noch zusätzlich dadurch verstärkt, dass auf den Weltsozialforen in begrenztem Rahmen diese alternative Welt simuliert wird. Menschen aus unterschiedlichen Weltregionen, mit verschiedenen Hautfarben, Problemen, Wünschen und Lebenskonzepten tauschen sich interessiert und offen aus, lachen gemeinsam, suchen Verständigung statt Konflikt. Dadurch wird Globalisierung neu gedacht und eine andere Welt wird erlebbar. Die Weltsozialforen sind und bleiben Orte, an denen man andere Welt- und Lebensrealitäten kennenlernen kann, weil die Treffen die dafür nötige Offenheit erzeugen. Dadurch können transnationale Brücken gebaut werden, die sonst nicht entstehen würden.
Ein anderes Weltsozialforum ist möglich
Für das WSF gibt es (bisher!) keinen Ersatz. Es ist ein wichtiger Ort, um über globale Gerechtigkeit und die globale Dimension von Problemen zu sprechen. Damit es Bestand hat, wird es sich verändern müssen. So sind die Vorbereitung und Organisation der Treffen seit Jahren prekär. Das hat auch mit dem Low-Budget-Prinzip der Foren zu tun: Beinahe alle großen, transnationalen NGOs haben sich aus der Finanzierung zurückgezogen – die Organisation der Foren wird immer misslicher. Hier müsste etwas getan werden, um die Finanzierung dauerhaft auf kräftigere Beine zu stellen.
Die prekäre Organisation der Foren hat auch etwas mit dem Internationalen Rat (IC) zu tun. Er besteht aus ca. 170 Personen und entscheidet über die strategische Ausrichtung und den Austragungsort der Foren. Der Zugang zum Gremium ist ebenso unklar wie seine Machtstrukturen undurchschaubar. Hier bedarf es dringend der Einbindung neuer sozialer Bewegungen jenseits der Globalisierungskritik. Es müssten auf jeden Fall neuere soziale Bewegungen, die nach 2008 entstanden sind, eingebunden werden und das Gremium offen sein für Veränderungen.
Auch über den Austragungsort wird immer wieder gestritten. War Porto Alegre in den Nullerjahren ein recht dankbarer Ort, so sind diese Zeiten heute vorbei. In den globalen Norden zu gehen, scheint wegen restriktiver Visapolitiken schwierig, gerade, wenn man soziale Bewegungen aus anderen Erdteilen stärken möchte. Es sollten jedoch Austragungsorte gewählt werden, die nicht derart instrumentalisiert werden können wie Salvador.
Das Weltsozialforum hat weiterhin einen wichtigen Platz in der Welt sozialer Bewegungen – zumindest, bis etwas anderes an seine Stelle tritt. Natürlich wurden viele überschwängliche Hoffnungen aus der Anfangszeit nicht erfüllt. Die Welt hat sich seitdem verändert und eine Weltzivilgesellschaft etabliert sich nicht in zehn Jahren. Dass eine große Zahl von Menschen aus allen Erdteilen zusammenkommt und angstfrei miteinander diskutieren kann, ist ein wichtiger Schritt, um Globalisierung jenseits von Billigflügen, Klimawandel und Freihandel zu gestalten. Mit der verstärkten Diskussion um thematische Sozialforen, etwa zum Thema Migration im November 2018, ist ein Grundstein für die Weiterentwicklung der Treffen gelegt.
Der Beitrag erschien zuerst in Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 5/2018.